Der Schneemann im Schneemann im Schneemann

(ein Weihnachtskrimi)

Als Gudrun Habicht ihren Mann mehr und mehr nervte, beschloss dieser eines Tages, seine Frau zu er­morden.

Der Ehebund des Paares bestand seit vielen Jahren, und Walter Habicht hatte sich seine Entscheidung ganz sicher nicht leicht gemacht. Er folgte, als er den Entschluss fasste, seine Lebensgefährtin umzubringen, auch nicht etwa einer momentanen schlechten Laune, sondern es handelte sich vielmehr um die längst fällige Lösung eines Konfliktes, welcher diese Ehe schon lange belastete, dessen Lösung er aber immer wieder zeitverschwenderisch hinausgezögert hatte, und der nun ein für allemal zu ungun­sten seiner Frau entschieden werden sollte.

Im Grunde ge­nommen existierte der Keim des schlimmen Endes aber bereits, seit Habicht seine Gudrun zum ersten Male sah, sie spontan ansprach und sich schon im ersten Augenblick des sich anbahnenden Kennenlernens fragte, ob es sich denn überhaupt lohne, dieser Kreatur auch nur noch eine einzige Minute Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen.

Nachdem er sie dann geheiratet hatte, dachte er schon nach dem Tausch der Ringe fortwährend nur noch an Tren­nung, an Scheidung und wurde nicht mehr losgelassen von dem dringenden Wunsch, auf schnellstem Wege einen Schlußstrich zu ziehen. Wann diese ersehnte und immer wieder erwogene Beendigung der gescheiterten Ehe erstmals einen ge­walttätigen Charakter annahm, vermochte er später nicht mehr zu sagen. Gedanken, die in diese fatale Richtung wiesen, lauteten etwa: »Am liebsten würde ich das Weibsbild in die Wüste schicken, und zwar dorthin, wo diese am heißesten und trockensten ist!« Oder: »Mensch Gudrun, ich könnte Dir in den Hin­tern treten, dass du schnurstracks bis zum Mond fliegst!« Oder: »Ich sollte Dir eventuell mal ein biß­chen die Gurgel zudrücken, um zu testen, wie lange Du die Luft anhalten kannst!« Und so weiter, und so weiter …

Aber zunächst stellten derartige Phantasieblitze noch längst keine ernsthaften Absichtserklärungen dar.

Doch dann auf einmal erfolgte der Sinneswandel ganz schnell.

Es geschah in der ersten Woche des Ad­vent, als er plötzlich wie durch eine himmlische Ein­gebung zu der Entscheidung kam, die Sache nicht mehr weiter auf die lange Bank zu schieben – und diese Entscheidung war endgültig.

Er wußte allerdings noch nicht, wie er die kitzelige Angelegenheit bewerkstelligen sollte, denn er hatte noch nie in seinem Leben gemordet.

Die Zeit eilte dahin. Das Weihnachtsfest rückte nä­her und näher. Und er hatte sich noch gar nicht über­legt, was er Gudrun schenken könnte.

Entweder, so dachte er, muß ich sie vor Heiligabend ermorden, oder ich muß ihr noch ein Geschenk kaufen.

Wenige Tage vor dem Fest war es dann soweit. Er wußte endlich, wie er Gudrun umbringen würde, war sich aber nach wie vor unschlüssig, ob er dies noch vor dem Vierundzwanzigsten erledigen sollte oder erst danach. Doch schließlich sagte er sich: Warum soll ich ihr denn, bevor sie stirbt, nicht noch einen letzten Heiligen Abend und zum Abschied ein Geschenk gönnen? Er fand diesen Gedanken angenehm. Denn so konnte er als bescheidenen Gegenwert für die Untat, die er vorhatte, auf dem Konto seines Gewissens so etwas wie einen Bonuspunkt verbuchen.

Also vertagte er den Mord auf die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester.

Was er Gudrun schenken sollte, wußte er allerdings immer noch nicht. Dass sie nur noch kurze Zeit zu le­ben haben würde, verkomplizierte diese Nebensäch­lichkeit und machte sie zu einem zusätzlichen Pro­blem. Wozu sollte er ihr beispielsweise ein Buch schenken, das sie gar nicht zuende lesen konnte? Oder ein Schmuckstück, das nur sie selbst ein oder zwei ­mal im Spiegel zu sehen bekäme? So zu handeln, wäre nicht nur pure Geldverschwendung, sondern es verkörperte in gewisser Weise auch eine wenig lobenswerte Form der Unfairness, ja eine besonders heimtückische Variante von Sadismus. Was da schon eher in Frage käme, wäre ein zu enges oder zu weites Kleidungsstück, das ihr den trügerisch tröstenden Glauben ließe, es nach den Feiertagen in ein ihr passendes Kleidungsstück umtau­schen zu können. Und diesen Tausch könnte er ja nach dem Fest, ihrem Tod und ihrer Beisetzung gemäß dem eigenen Bedarf, nämlich gegen Rückerstattung des Kaufpreises, selber be­sorgen.

Ja, eine sehr gute Idee. Mit dieser Lösung war ihnen beiden gedient.

Er entschied sich für ein Kleidungsstück in einer für ihre Verhältnisse grotesken Übergröße, um nicht zu riskieren, dass sie sich aus Eitelkeit und Trotz hineinzuzwängen versuchte und dabei die Nähte zum Platzen brachte, wodurch sie ihn um den Gewinn der Kaufpreisrückerstattung gebracht hätte. Und sicherheitshalber war das Mantelungetüm, das er erstand, so solide verarbeitet, dass sie selbst bei der tollpatschigsten Erstanprobe kaum imstande sein würde, das teuere Stück zu beschädigen .

Somit hatte er bis ins Kleinste alles bedacht und musste nicht befürchten, sich später einmal, falls es ihm einfiele, auf sein Leben und auf diese Zeit zurückzublicken, über ein dummes Versäumnis zu ärgern.

Und auch der Heilige Abend verlief ganz nach Plan.

Es war ein Abend der Zweisamkeit und des Friedens. Es fiel keine böses Wort, gab nicht den geringsten Streit. Es fehlten das grimmige Schweigen und der schweflige Geruch giftigen Hasses. Es duftete würzig und weihnachtlich, roch nach Ehe, nach Zärtlichkeit und Liebe. Aber trotzdem schöpfte Gudrun keinen Verdacht.

Ja und der Mantel – ja sogar der gefiel ihr! Er war so weiträumig, dass sie darin einen Salto hätte schlagen können, ohne das Innenfutter zu berühren – aber er gefiel ihr!

Auch den ersten und den zweiten Weihnachtsfeiertag verbrachten sie – noch ganz im Sinne des Festes – in ungetrübter Eintracht.

Doch am Tag darauf war alles anders. Denn nun ge­schah es.

Walter Habicht ließ sich, als er Gudrun das Leben nahm, in keiner Weise von niederen Motiven leiten, von Rachegelüsten, sich aus­tobender Wut, boshafter Genugtuung und derglei­chen, sondern er hatte sich für Gudrun eine Todesart ausgedacht, die, wäre sie aus anderen Gründen geschehen, eher als Sterbehilfe hätte gedeutet werden können. Sie starb schnell, nahezu schmerzfrei, ahnungs- und lautlos. Sie schied dahin im Einklang mit sich selbst, so wie sie eben war: schlicht, arglos, böse.

Was Habicht tat, war – aus juristischer Sicht – ganz bestimmt ein Mord, dessen war er sich durchaus be­wußt. Vom humanen Standpunkt aus betrachtet war es jedoch etwas anderes – was, das wußte er zwar nicht so genau, aber gefühlsmäßig war er sich diesbe­züglich vollkommen sicher. Der einzige Mensch, der ihm dies vielleicht hätte nachempfinden und bestätigen können, der war ja nun leider … Ja, Gudrun war … Nein, sie war ja nicht mehr! – Sie …! war …! nicht …! mehr …!

Plötzlich, ganz plötzlich, knapp eine Minute nachdem er Gudrun unschädlich gemacht hatte, befiel ihn wie aus düsterem Himmel ein Gefühl der Schwermut. So leicht, wie er sich eben noch gefühlt hatte, als er zuwerke gegangen war, so schwer fühlte er sich jetzt, nachdem er sein Werk vollendet hatte.

Er stand da wie von einem heimtückischen Gift ge­lähmt und ertappte sich bei dem Gedanken: Mußte das eigentlich sein? Und: Hatte sie das tatsächlich verdient? Wäre es nicht auch anders gegangen? Ich hätte vielleicht mal mit ihr reden sollen, wirklich reden, richtig reden. Unter Umständen wäre dann noch etwas zu machen gewesen, zumindest et­was anderes als das, was ich gerade gemacht habe …

Er spürte, wie leichte Zweifel in ihm wach wurden: War wirklich nur sie an allem Schuld gewesen … sie … nur ganz alleine sie. . .? Habe zu dem eheli­chen Höllenfeuer nicht auch ich selbst ein wenig bei­getragen, ein Fünkchen, das ich die ganzen Jahre über nicht wahrgenommen habe, weil ich es nicht habe wahrnehmen wollen …? Er gestand sich ein, dass dies durchaus der Fall gewesen sein mochte.

Aber nun … dachte er, … nun ist es zu spät … nun bin ich … Witwer ….! Und dazu bin ich doch wirklich noch zu jung! Andere Männer in meinem Alter haben Frauen – und ich? Was habe ich jetzt?

Ihm war, als steckte ein Kloß in seinem Hals, der sich weder unterschlucken noch herauswürgen ließ.

Doch nachdem er eine Zeitlang vergeblich an dem Fremdkörper geschluckt und gewürgt hatte, rutschte dieser auf einmal wie von selbst nach unten, verteilte sich in seinem Bauch und verwandelte sich in eine dumpfe Wut. Er warf einen Blick auf die sterblichen Überreste seiner Frau, und wenn Blicke töten könnten, dann wäre er in diesem Augenblick ein Doppelmörder.

Jahrelang nervst Du mich mal so, mal so und mal so! schrie er sie in Gedanken an. Und jetzt nervst Du mich auch noch … so …!

Weil er befürchtete, er könnte sich, da sie ihm immer noch im Weg lag, vielleicht noch zu irgendwelchen unnötigen und irrationalen Handgreiflichkeiten hinreißen lassen, schaffte er sie sich aus den Füßen und wandte er sich rasch von ihr ab. Er eilte zum Wohnzimmerschrank, nahm den Kognak heraus und trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Er wiederholte dies mehr­mals, bis die Wärme des Alkohols ihn einlullte und seine Erregung dämpfte.

Ich muß ja schließlich nicht bis an mein Leben­sende einsam sein, tröstete er sich. Irgendwann werde ich bestimmt mal wieder eine nette Frau ken­nenlernen. Und ich wäre ja wohl nicht der erste Mann, der sich nach einer gescheiterten Ehe erneut verheiratet.

Das beruhigende Gefühl, das ihn bei dieser Vor­stellung überkam, war jedoch nur von kurzer Dauer. Ein jäher Schrecken durchzuckte ihn, so als hätte er ei­nen elektrischen Schlag bekommen. Wohin mit der Leiche!? Mein Gott, wo war er denn nur mit seinen Gedanken gewesen?! Die ganze Zeit über hatte er seine gesamten Überlegungen auf den Mord und sogar auf Kleinigkeiten wie ihre Kleidergröße konzentriert und das eigentliche Problem, das der Leichenbeseiti­gung, dabei völlig vergessen!

Die Kognakflasche in der Hand, ging er grübelnd im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit trank er ei­nen Schluck, und schließlich blieb er vor dem Fenster stehn und starrte mit glasigem Blick durch die Scheibe.

Wohin mit der Leiche? kreiste es unablässig in seinem Kopf. Wohin nur mit der Leiche? Wohin nur … wohin … wohin …? Da stutzte er plötzlich. Ihm wurde nämlich jetzt erst bewusst, dass es draußen schneite!

Es war ein Schneetreiben, wie er es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte, und der Anblick brachte ihn von einem Augenblick zum andern auf neue Ge­danken.

Weiße Weihnachten! schwärmte er und vergaß dabei, dass das Fest ja schon vorüber war. Weiße Weihnachten, du lieber Himmel, wie lange hat es das schon nicht mehr gegeben!

Erinnerungen aus seinen früheren Lebensjahren wurden in ihm wach. Er sah sich auf dem Schlitten verschneite Hügel hinuntersausen, nahm an wilden Schneeballschlachten teil und erinnerte sich an wun­derschöne Schneemänner, an stattliche, mannshohe Kerle, mit Augen aus Kohlebrocken, Nasen aus Ka­rotten, Hüten aus Konservenbüchsen … Und da kam ihm der rettende Einfall.

Ja! Einen Schneemann würde er bauen! So wie da­mals! Das war die Idee! In einem Schneemann konnte er Gudruns Leiche so lange gut gekühlt zwi­schenlagern, bis ihm für ihren weiteren Verbleib et­was Passendes eingefallen war.

Als es dunkel wurde, machte Habicht sich ans Werk, und am nächsten Morgen stand im Vorgarten, unweit von der Haustür, ein sorgfältig modellierter Schneemann.

Der erste Bewunderer des kalten Kunstwerkes war Herr Niemeier, der Briefträger.

»Wie in Kinderzeiten!« sagte der und bedachte die Figur mit einem langen nostalgischen Blick. Und dann stellte er, wie jedes Jahr am siebenundzwanzig­sten Dezember, die Frage: »Angenehmes Fest gehabt?«

Habicht lächelte säuerlich und meinte: »Kann man eigentlich nicht behaupten.«

Der Briefträger setzte eine sorgenvolle Miene auf und fragte: »Ach? Nicht?«

»Ne kleine Familienstreitigkeit:« erklärte Habicht.

»Na, wenns weiter nichts ist«, tröstete ihn der Briefträ­ger. »Sowas kommt ja überall mal vor.«

Habicht neigte bekümmert den Kopf. «Wenn ei­nem so von heut auf morgen die Frau davonläuft«, klärte er den Postboten auf, »dann ist das schon ne ziemlich traurige Geschichte.«

»Hmm!« machte Herr Niemeier. »Tja. . .«

»Und das auch noch am Fest der Liebe«, fügte Habicht mit einem Anflug von Galgenhumor hinzu.

Worauf der Briefträger seinerseits scherzhaft erwi­derte: »Aber dafür haben sie jetzt ja einen wunder­schönen Schneemann.«

Für Habicht begann an diesem Tag ein Wettrennen mit dem Klima. Wohin nur, verdammt nochmal, mit der Leiche!? An etwas anderes konnte er nicht mehr denken.

Als in der ersten Woche des neuen Jahres dann Tauwetter einsetzte, schien sein Schicksal besiegelt. Doch noch einmal hatte er eine Eingebung, die ihn vorerst vor dem Schlimmsten bewahrte. Bevor der Schneemann sich in Wasser auflöste und den Leich­nam seiner Frau freigab, begann er, ihn mit dem Rest von Kunstschnee zu besprühen, der beim Christbaumschmücken übrig geblieben war. Das noch vorhandene Schneesurrogat reichte zwar nicht aus, um die Schmelzschäden vollständig zu beheben, doch er konnte im Kaufhaus noch ein paar Dosen davon auftreiben.

Und so stand schließlich, als das Tauwetter sämtli­chen Schnee weit und breit vernichtet hatte, anstelle des echten Schneemannes ein künstlicher in Ha­bichts Vorgarten.

Herr Niemeier war auch von diesem beeindruckt. »An Ihnen ist ein richtiger Bildhauer verlorengegan­gen«, bemerkte er, während er den Schneemann um­rundete. »Echt! Wirklich!« Er schnalzte anerken­nend mit der Zunge.

Aber auch der neue Schneemann war kein Werk von Dauer. Er wurde täglich unansehnlicher und wäre bald dem Verfall preisgegeben gewesen, wenn Habicht nicht rundum in allen Geschäften und Kauf­häusern die Restbestände von Kunstschnee aufge­kauft und der Enthüllung der Wahrheit mit ständi­gen Restaurationsarbeiten entgegengewirkt hätte.

Dann aber kam das Frühjahr, und nirgendwo im Land war mehr Kunstschnee zu bekommen. Im Gei­ste sah Habicht sich schon als Mörder vor den Schranken des Gerichtes stehen, als sein Briefträger und treuer Bewunderer ihm mit einem genialen Vor­schlag aus der Patsche half.

»Wissen Sie«, fragte dieser eines Tages, als er wieder mal vor Habichts Haus stand und sich die von der Zerstörung bedrohte Skulptur betrachtete, «was ich an Ihrer Stelle tun würde?«

Habicht schüttelte resigniert den Kopf.

»Ihn vergipsen«, sagte der Briefträger.

Habichts Nacken reckte und versteifte sich ruck­artig, seine Augen wurden groß, sein Unterkiefer senkte sich.

»Ihn so wie er jetzt ist stehnlassen und einfach mit Klopapier umwickeln«, führte der Beamte weiter aus, »und ihn mit Gips bestreichen. Dann hält er Ihnen für immer und ewig.«

Habicht stand da mit offenem Mund und starrte den Briefträger an.

»Wissen Sie, was Sie dann haben?« freute sich die­ser. »Einen Schneemann für alle vier Jahreszeiten.«

»Oh Mann!« stöhnte Habicht und gab dem genialen Briefträger einen zarten Knuff gegen die Brust.

Dessen Gesicht strahlte vor Freude. Wie das Gesicht eines Kindes bei der Weihnachtsbescherung.